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   Eine Ausstellung tibetischer Rollbilder im April 2001

Selten wurde das reiche Erbe des Tibetischen Buddhismus an den Westen auch auf äußerer Ebene so deutlich, wie bei der Ausstellung tibetischer Rollbilder (Thangkas), die zuerst während des Osterkurses im Heimatmuseum von Neu-Isenburg bei Frankfurt und später in der Meditationshalle des Hamburger Zentrums stattfand. Viele der eindrucksvollsten Rollbilder, die jemals nach alter tantrischer Tradition gemalt wurden, konnten hier erstmalig der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Buddhistische Praktizierende aus mehreren europäischen Ländern stellten dafür ihre schönsten und wertvollsten Stücke zur Verfügung. Ein wahrer Schatz sonst nur privat gehüteter Kostbarkeiten wurde so erstmalig zugänglich gemacht.

Dazu schrieb Lama Ole Nydahl in seinem Vorwort zum Begleitheft der Ausstellung: “Die Thangka-Ausstellung ist vor allem wegen ihrer Zielsetzung bemerkenswert. Statt wie bedeutende Museen und Sammlungen weltweit eine breite Auswahl von Kulturschätzen anzubieten, werden hier die Meditationshilfen einer tibetischen Übertragungslinie gezeigt. Sie sind ein Stück lebender Buddhismus und wir hoffen, dass die Bereicherung ihrer Kraftfelder durch den Idealismus des Westens für viele spürbar sein wird.”

Wohl alle Besucher der Ausstellung spürten die außergewöhnliche Kraft dieser von buddhistischen Meistern gesegneten Bilder, selbst wenn sie nichts über deren eigentliche Bedeutung wussten. Da es aber auch Erklärungen gab – zunächst von Lama Ole bei der Eröffnung der Ausstellung und später auch von anderen Lehrern – erschloss sich im Laufe der Zeit mehr und mehr die eigentliche Tiefe dieser perfekten Darstellungen der Qualitäten der Erleuchtung.

Rollbilder dienen im Tibetischen Buddhismus oder Diamantweg vor allem als Inspiration für Meditierende. In der Meditation identifiziert man sich mit verschiedenen Ausdrucksformen erleuchteter Qualitäten, die in jedem Menschen angelegt sind, aber nur durch Meditation unmittelbar erfahren werden können. Zu diesem Zweck vergegenwärtigt man sogenannte “Buddha-Aspekte” – männliche, weibliche oder vereinigte Buddhas in verschiedenen Farben und Körperhaltungen. Rollbilder werden als Stütze verwendet, um sich diese Aspekte der Erleuchtung richtig im Geist vorstellen zu können. Damit bieten sie dem Praktizierenden genaue Anleitung und weisen ihn auf das in ihm liegende Potenzial hin.

Es funktioniert so, als wenn man in einen Spiegel schaut und sein eigenes schönes Gesicht sieht. Jede Farbe und Form, jede Körperhaltung und jedes Attribut zeigt eine bestimmte Facette der Erleuchtungserfahrung, die man in der Meditation verwirklicht. Alle Bilder sind nach klassischen Vorlagen gemalt, die auf alte indische Quellen zurückgehen. So gibt es im Tenjur, den Kommentaren der indischen Meister zu den Lehren Buddhas, Sammlungen von Beschreibungen der verschiedenen Buddha-Aspekte, ebenso Abhandlungen zur Ikonometrie, den Beschreibungen der Linien und Proportionen des Körpers dieser Aspekte.

Alle Bilder wurden früher nur als Auftragsarbeiten zur Ausführung einer bestimmten Meditationspraxis gemalt. Sobald man Rollbilder auf dem freien Markt kaufen konnte, hatten sie schon nicht mehr den höchsten Wert. Ein Maler dieser Bilder hatte sich über seine möglichst perfekte Maltechnik hinaus an die klassischen Anweisungen zu halten und sie exakt nach den Vorgaben umzusetzen. Er sollte eine reine Einstellung haben und auf den jeweiligen Buddha-Aspekt ausreichend meditiert haben. Eigentlich malte er dann den Aspekt so, wie er ihn in der Meditation erlebte. Dabei hatte er aber in der Zusammensetzung der Farben und in der Gestaltung der Umgebung des zentralen Aspekts auch eine gewisse kreative Freiheit, wodurch im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedliche Malstile entstanden.

Bei den Rollbildern dieser Ausstellung handelt es sich vorwiegend um Malereien aus der sogenannten Karma Gadri-Tradition, die im 16. Jahrhundert in Ost-Tibet entstand. Der Ausdruck “Karma” bezieht sich auf die “Karma-Kagyü-Schule” mit ihrem Hauptlehrer Karmapa, der Begriff “Gadri” bedeutet “Malstil der Zelte”. Dieser Begriff entstand, weil frühere Karmapas in großen Zeltlagern durch Tibet und die angrenzenden Länder reisten, wobei ein hohes Kulturleben gepflegt wurde. Der frühe Karma Gadri-Stil war vom Ende des 16. Jahrhunderts bis ca. 1730 vorherrschend, der spätere von 1730 bis in unsere Zeit.

Dieser Malstil verbindet eine große Klarheit und Einfachheit des Ausdrucks mit frischer Farbgebung. Die Schlichtheit der Gewänder kontrastiert mit einer reich ausgestalteten Umgebung. Viele Bilder sind mit Gold ausgemalt und bekommen dadurch eine besondere Strahlkraft. Die Farben werden auf mineralischer oder pflanzlicher Grundlage hergestellt. Oft werden zu Pulver gemahlene Edelsteine und besonders gesegnete Substanzen beigemischt.

Auch die Anordnung der Bilder innerhalb der Ausstellung hatte tiefe symbolische Bedeutung. Sie folgte streng den Strukturen buddhistischer Kraftkreise (Skt.: Mandalas). Ein Kraftkreis oder Mandala bezeichnet eine Struktur, die um einen zentralen Punkt herum angeordnet ist. Es zeigt daher immer ein Prinzip und die Anwendung dieses Prinzips. Im äußeren Universum können wir als Beispiel unser Sonnensystem nehmen, bei dem die Planeten um die Sonne als Zentrum kreisen. Auch unser eigener Körper ist um seine zentrale Achse angeordnet. Selbst im Mikrokosmos folgt alles dem Mandala-Prinzip, zum Beispiel die Zelle mit dem Zellkern und das Atom mit dem Atomkern.

Auf der Ebene der Befreiung und Erleuchtung manifestieren alle Buddhas und hohen Bodhisattvas um sich herum ein reines Kraftfeld, ihr eigenes Reines Land. Der historische Buddha Shakyamuni beschrieb die Qualitäten dieser Reinen Länder in allen Einzelheiten. Er lehrte verschiedene Methoden, wie man mit den Buddhas und ihren Reinen Ländern in Verbindung treten kann und so in leichter Weise zur vollen Erleuchtung gelangt. Damit ist die Funktion eines solchen Kraftkreises, dass er den Praktizierenden schrittweise in Verbindung mit den wichtigsten Prinzipien des Geistes bringt. Er drückt Qualitäten wie Mut, Freude, Mitgefühl und Weisheit aus, die bereits jetzt zur Natur unseres Geistes gehören, allerdings erst dann erkannt werden, wenn man in einen solchen Kraftkreis eingeführt wird. Dies ist immer eine ganzheitliche Erfahrung.

Die gezeigten Rollbilder waren gleichzeitig nach drei verschiedenen Systemen in der Form eines Mandalas angeordnet – nach dem Prinzip des Zufluchtsbaumes, dem Prinzip der fünf Buddhafamilien und dem Prinzip des Doppeldorjes. Dem Zufluchtsbaum folgend stellten sie die verschiedenen Aspekte der Erleuchtung dar, auf die man sich bei der buddhistischen Zufluchtnahme ausrichtet. In dieser Funktion schützen sie uns vor allen Arten von Leid und bringen uns in Verbindung mit unserer eigenen Buddhanatur.

In der Anordnung des Buddhapalastes der fünf Buddhafamilien wurden die Bilder entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu diesen Familien gezeigt, die hauptsächlich die gereinigte Essenz der Störgefühle als Weisheit ausdrücken. Man kann alle vom Buddha gelehrten Buddha-Aspekte in diese fünf Buddhafamilien zusammenfassen und diese wiederum in den Freudenzustand des Buddha, Diamanthalter (Tib. Dorje Chang). Besonders ist hier das riesig große, wunderschöne Bild des Buddha des Grenzenlosen Lichtes (Skt. Amitabha) hervorzuheben, das das Zentrum Schwarzenberg freundlicherweise zur Verfügung stellte. Als Buddha des Westens hat dieser Buddha mit seiner ganzen Lotusfamilie eine zentrale Bedeutung für uns.

Das dritte Prinzip für die Anordnung der Bilder war der Doppeldorje, der die vollkommene Unzerstörbarkeit des Geistes ausdrückt. Als spezielles Symbol der Karma-Familie des Buddha Amoghasiddhi steht er auch für die perfekte Buddha-Aktivität zum Wohl der Lebewesen. Man sieht den Doppeldorje als Zeichen für die Aktivität aller Buddhas auch vorne an der Schwarzen Krone der Karmapas. Er ist damit eine der wichtigsten Ausdrucksformen für die Karma-Kagyü-Linie des Tibetischen Buddhismus.

Der Zentrale Punkt der gesamten Ausstellung war ein Stupa, angestrahlt von intensivem Regenbogenlicht. Der Stupa zeigt das Abhängige Entstehen aller Dinge und damit den erleuchteten Geisteszustand. Er steht gleichzeitig auch für die Gemeinschaft der Praktizierenden. Das Regenbogenlicht symbolisiert, dass während die Dinge klar erscheinen, keinerlei wahrhafte Existenz darin zu finden ist – so wie ein Regenbogen zwar in allen Farben klar erscheint, aber keine solide Substanz besitzt. In der gleichen Weise erscheinen die verschiedenen Buddha-Formen zwar klar, besitzen aber keinerlei solide Substanz. Sie weisen damit direkt auf die offene, klare Unbegrenztheit unseres Geistes hin.

Damit bedeutete ein Besuch der Ausstellung nicht nur, höchsten künstlerischen Genuss im Zusammentreffen mit Buddha-Aspekten aus ganz Europa zu erfahren, sondern tatsächlich in den Kraftkreis der Buddhas einzutreten und eine tiefe Belehrung über das grundlegende Prinzip aller Dinge, die Natur des eigenen Geistes, zu erhalten.


Aus: Buddhismus heute Nr. 33, 12. Jahrgang (Juni 2001)

von Manfred Seegers


Autor:

Manfred Seegers ist nach Abschluss eines fünfjährigen buddhistischen Studiums unter Khenpo Lama Thubten autorisierter buddhistischer Lehrer. Er studierte und lehrte an der buddhistischen Universität Karmapa International Bud-dhist Institute in Neu Delhi, Indien. Im Auftrag von Künzig Shamar Rinpoche und Lama Ole Nydahl hält er Vorträge und Seminare in vielen europäischen Ländern.


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